Chaplin (D)

23.09.2017
Chaplin (D)

Es ist 2016, Bob Dylan hat gerade den Literaturnobelpreis gewonnen. Die Band Chaplin nimmt ihr zweites Album in den Berliner Candy Bomber Studios auf und schickt ihm einen Liebesbrief. Der Titeltrack Wenn uns morgen keiner weckt klingt so krass nach 1966, genauer gesagt nach Stuck inside of Mobile with the Memphis Blues again, dass es eine Freude ist. No pun, da wird niemand meckern, Dylan selbst hat seine mindestens ersten 370 Songs gekonnt aus der Musikgeschichte geklaut. War es nicht sogar er, der sagte: talent borrows, genius steals? Egal, Eklektizismus ist für Nerds. Was hier aber allen Hörern, die eine Seele ihr eigen nennen, passiert, ist, dass sie schon nach wenigen Takten ins Chaplin-Universum gesaugt werden und dort neun Stücke lang verweilen. So einnehmend ist Dominic Hoffmanns Gesang, seine verzweifelte Komik und komische Verzweiflung.

Die Band spielt warm und weit auf. Rhodes, Orgel, Bass und Schlagzeug, ein paar wunderschöne Gitarren, angezerrt, durch Tapes geschleift und verhallt. Manchmal auch wütend solierend wie im ergreifenden Abgesang A44. Da hört man auch, dass jemand mit Ohren für Raum und Klang am Pult saß: Jakob Ilja, Gitarrist und Gründungsmitglied von Element of Crime ist mit den Jungs einen weiten Weg gegangen, vom Proberaum bis zur Bandmaschine des legendären Tempelhofer Studios. Ob es auch ihm zu verdanken ist, dass man die Platte getrost "Mein Leben als Walzer" nennen könnte? Wer weiß ...

Chaplin, außer Dominic Hoffmann Mike Knorpp (Gitarre), Jonathan Klein (Tasteninstrumente), Hans Kämmerer (Bass), Jens Baumann (Schlagzeug), erweitern ihr Instrumentarium um Lapsteel, Streicher und Bläser. War das 2015er Debüt der Band Im Taxi hinter der Tram noch songorientierter, finden sie auf Wenn uns morgen keiner weckt immer mehr zur freien Form. Dominic und die Band wechseln sich 4-taktweise ab, hier ein Gruß an Gainsbourg, dort eine Zeile CutUp-Prosa. Diese Texte!!! Sie holen mich bei jedem Hören mehr rein. Überall sind Fragen, die Antworten liegen nebendran und passen nicht dazu. Der Sänger verschiebt die Ebenen, reimt vergangenes Glück auf verlassenes Glück. Da sind Hunde, da ist neues Bier und das Lied vom vorigen Jahr. Da ist ein Du, das man gerne anschreien möchte, wenn es sich nicht immer so schnell davonstehlen würde. Die Band hat alle Farben dafür und spielt sehr schön mit Stille und Krach. Zuzuhören, wie sich alle zusammen in Ich dachte das wärst du zum Finale schrauben, wie dann Hammond und Klickergitarre übrigbleiben und Dominic Hoffmann darüber vom Kontrolleur, der an die große Liebe denkt, erzählt, das sind schon gute Musikmomente.

Bob Dylan sagt die Nobel-Gala wegen Zahnarzttermin ab, Patti Smith versingt sich dort zuckersüß und Chaplin rollen weiter. Ich bin gespannt wohin.
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